user avatar
Andrea Keiz // Teacher
IDOCs » [deu] Making Sense through Sensation
Reflektion über einen Workshop zu Dokumentation als Teil künstlerischer Praxis/ Forschung
2020.07.10

6713 views      1 appreciation    

Attached Documents:
Click a link to view the document in a new window (PDF supporting browsers only)
making sense through sensation.pdf

Einführung
In folgendem Beitrag teile ich Überlegungen zu einem WorkshopFormat, das ich in
unterschiedlichen Kontexten anbiete. In den letzten Jahren habe ich mich in meiner Arbeit als
Videodokumentaristin und Videografin ausgiebig mit dem Einsatz von Dokumentation im
Kontext künstlerischer Praxis und Forschung beschäftigt. Praxisbasierte Promotionen im Bereich
der darstellenden Künste erfordern innovative Formen der Dokumentation. Wie kann eine
künstlerische Forschung, in der der Versuchsaufbau oft der (eigene) Körper im Studio ist,
Materialien hervorbringen, die Erkenntnisse oder sogar Evidenz bezüglich einer akademischen
Forschungsfrage liefern? Mit diesem WorkshopFormat befrage ich den Einfluss der körperlichen
Einstimmung auf die Dokumentation des Arbeitsprozesses.
In meiner Praxis greife ich, über das Medium Video hinaus, ergänzend auf Foto, Schrift,
Zeichnung und Tonaufnahmen zurück, weil gerade der Tanz, einer meiner Arbeitsschwerpunkte,
sich besser durch eine vielschichtige („multilayered“) Dokumentation beschreiben lässt (Keiz
2017). Eine audiovisuelle Dokumentation scheint zwar oft unausweichlich, um einen visuellen,
zeitbasierten Überblick zu erhalten, einige Aspekte einer körperlichen Erfahrung lassen sich aber
besser mit anderen Mitteln festhalten. Besonders in somatischen Methoden wie zum Beispiel
Body-Mind Centering Ⓡ haben sich Praktiken wie automatisches Schreiben und Zeichnen nach
einer Arbeitssession bewährt. Die unterschiedlichen Dokumente können sich ergänzen und
zusammen ein vollständigeres Bild ergeben.
Die Frage nach der Wahl der Mittel ist ein wichtiger Aspekt in Workshops im Kontext von
Performancekünsten. Ich beziehe mich dabei auf meine langjährige praktische Erfahrung. Vor der
Auswahl oder Einführung eines Mediums zur Dokumentation einer bewegungsbasierten Praxis,
biete ich Übungen zur Vergegenwärtigung der körpereigene Wahrnehmung vor. In einer
physischen Praxis treffen wir viele Entscheidungen sehr spontan. Sensibilisierung für und die
Reflexion über die Art und Weise der Entscheidungsfindung kann helfen das Interesse und den
Wissensstand zu klären und daraus eine etwaige Forschungsfrage zu formulieren.
Die im Workshop angebotenen Wahrnehmungsübungen unterstützen, je nach Erfahrung und
Ausbildung, unterschiedliche Ebenen der Reflexion und können für Anfänger*innen genauso
hilfreich sein wie für Fortgeschrittene: Wie nehmen wir wahr, was nehmen wir wahr und wie
produzieren wir „Sinn“ aus dem, was wir wahrnehmen? „Sinn“ in diesem Fall betrachtet als ein
Ergebnis in Relation zur eigenen Arbeit oder dem eigenen Forschungsinteresse.


Der Workshop
Im Folgenden beschreibe ich die Situation des Workshops Making Sense through Sensation , den
ich im Rahmen des gtf-Symposiums SENS(e)ATION in Tanzkunst und Wissenschaft 2020 geleitet
habe:
Der Zeitrahmen von 90 Minuten, um die Sinneswahrnehmung mit unterschiedlichen Übungen
anzuregen und die darauffolgenden Dokumentationsübungen und Reflexionen liegt unter dem für
mich für diese Art von Input üblichen Zeitrahmen. Aber da ich weiß, dass es sich bei den
Teilnehmenden um Tanzforschende handelt, setze ich voraus, dass es neben dem vertrauten
Umgang mit dem eigenen Körper auch Gewohnheit im physischen Umgang mit anderen gibt und
verwende weniger Zeit als sonst für einige Erläuterungen, Bewegung oder den physischen
Kontakt betreffend. Die in Folge beschriebenen Übungen, die wir im Workshop gemacht haben,
bleiben skizzenhaft und lassen sich vertiefen.
Ich unterrichte am ersten Tag der Tagung. Das Tanzstudio, in dem mein Input stattfindet, ist gut
gefüllt. Ich gebe eine kleine Einführung in das Thema. Ich benenne die Quellen meiner Arbeit;
ich gebe Referenzen zu meinen Lehrer*innen. Woher komme ich, was ist mein Hintergrund?
Was will ich für die Teilnehmenden hervorheben? Stelle ich mich in einem privaten Kontext vor,
präsentiere ich mich anders als in einem beruflichen. Im Tagungsrahmen erwähne ich meinen
akademischen Hintergrund: Ich habe einen Abschluss als Diplombiologin, zusätzlich eine
Ausbildung zur Tanzpädagogin mit Schwerpunkt Tanzimprovisation und Kontaktimprovisation
und arbeite seit 20 Jahren in der Videodokumentation von Tanz und Theater. Mit diesen
Informationen teile ich Eckpunkte aus meiner Biografie, unter deren Einfluss mein Input an
diesem Tag von den Teilnehmenden betrachtet werden wird und lege das auch so offen. Wir
sitzen in einer lockeren Kreisformation im Studio auf dem Boden, ich habe den Computer mit
einem geöffneten Textdokument vor mir. Durch den Einblick in die Metaebene meiner
Vorbereitung versuche ich die Aufmerksamkeit von Anfang an darauf zu lenken, wie komplex
unsere Wahrnehmung ist und wie schnell wir Schlüsse ziehen aus dem, was wir hören, unterstützt
durch die Art und Weise wie etwas präsentiert wird. Dieser erste Eindruck kann sich in der
Zusammenarbeit durch die konkrete Begegnung modifizieren, aber er schlägt doch eine
Perspektive vor, aus der die Workshopteilnehmenden auf mich schauen. Nach meiner
Vorstellung sollen alle aufstehen und durch den Raum gehen. Die Teilnehmer*innen bringen ein
immenses Wissen über die unterschiedlichsten Formen des Tanzes, praktisch und theoretisch
fundiert, mit.


Übung
Ich möchte in der ersten Übung, ohne weitere Vorbereitung, den Einfluss einer sensorisch und
ästhetisch basierten Entscheidung auf die Wahl eines Standpunktes beleuchten. Ich habe
Klebezettel, Stifte und einen Fotoapparat zur Hand, den ich für die erste Übung zur Verfügung
stellen werde.
In fordere alle auf, eine Stelle im Raum aufzusuchen, an der sie sich wohlfühlen. Die
Komponenten, die die Wahl beeinflussen, sollen auf den gelben Klebezetteln notiert werden. Als
Beispiele nenne ich Licht, Temperatur und Geruch, die ein Wohlbefinden auslösen können und
sich benennen lassen. Auch die eigene Positionierung im Raum, Körperhaltung und Ausrichtung,
können wichtig sein. Im nächsten Schritt sollen sich alle eine Partner*in suchen, um diesen ihren
Ort zu zeigen und zu beschreiben. Zum Abschluss soll jede Person ein Foto ihres eigenen Ortes
machen.


Reflexion
Viele Teilnehmer*innen bewegen sich nur kurz durch den Raum und haben schnell einen Ort und
eine Position eingenommen, die sie auch nicht mehr verändern, selbst wenn die räumliche
Situation um sie herum noch bewegt ist. Der zweite Teil der Übung – das Zeigen des Ortes –
wird von den Paaren ganz unterschiedlich umgesetzt. Manche der zuhörenden Partner*innen
begeben sich in die gleiche Körperhaltung am gleichen Ort im Raum, andere hören der
Beschreibung zu, ohne sich selbst zu positionieren. Und natürlich gibt es alle möglichen
Variationen dazwischen. Zurück am eigenen Ort wird das Foto von allen ohne weiteres
Nachfragen individuell umgesetzt. Manche fotografieren den leeren Ort, andere fotografieren den
Blick, den sie aus ihrer Position hatten.


ein Standort, 
ein Blick/Perspektive (Fotos von Teilnehmer*innen)


Perspektive mit eigener Hand (Foto Teilnehmer*in), 
Klebezettel, Dokumente des WS (Foto A. Keiz)


Die Aufforderung sich im Tanzstudio zu positionieren ruft eine gewohnte Handlung auf. Sich im
Raum positionieren ist eine gängige Arbeitsanweisung für Tänzer*innen. Je nach Stilrichtung
und Technik nehmen sie die dem Unterricht gemäßen Positionen ein. In diesem Workshop hat
sich das Raummuster von einem lockeren Kreis am Anfang der Stunde, den ich initiiert habe,
indem ich mich mit meinen Notizen mitten im Studio auf den Boden setzte, durch die erste
Aufgabe zu einer gleichmäßigen Verteilung ohne Front entwickelt.
Als ergänzende Handlungsanweisung in der ersten Übung bat ich, einer „Vorliebe“ bei der Wahl
des Ortes nachzugehen. Eine Vorliebe hat im Gegensatz zu einem Raummuster keine
verallgemeinerbare rationale Vorgabe, sondern folgt einer Empfindung. Mit diesem Vorschlag
lade ich eine persönliche Komponente als relevantes Kriterium in den Prozess ein. Unsere
Fähigkeit (Er-)Kenntnisse aus gemachten Erfahrungen auf andere Situationen zu übertragen, hilft
uns, uns schnell, manchmal automatisch, an vielfältige Gegebenheiten anzupassen. Der Wechsel
zur experimentellen/spielerischen Situation, den ich durch Infragestellung des
Selbstverständlichen anrege und durch die Anerkennung der unwillkürlichen Impulse als
entscheidende Komponenten unterstütze, erfordert eine Verlagerung der Aufmerksamkeit. Durch
diese neue Aufmerksamkeit können Wahlmöglichkeiten erkannt werden. Dem vermeintlich
Bekannten unvoreingenommen und neu-gierig gegenüberzutreten, ist eine bewusste
Entscheidung, die Türen für neue Erfahrungen öffnen kann.


Dokumentation
Mit Fotos und Notizen werden in dieser Übung schon erste mögliche Dokumente erstellt. Der
Körper als Erinnerungsträger wird sich an die Position im Raum erinnern, wie auch an die
Interaktion mit der Gesprächspartner*in. Die Notizen auf den Klebezetteln dienen dazu, Worte
für das zu finden, was die individuelle Entscheidungsfindung beeinflusst hat. Die
Verschriftlichung hilft die somatische Aktivität zu reflektieren und die eigene Präferenz zu
erkennen. Nur wer weiß, aus welcher Perspektive oder von welchem Standpunkt sie*er spricht,
kann einen Vergleich zu anderen Positionen herstellen.
Am Ende der Stunde erinnern die Fotos und die im Raum verteilten Notizen auf den Klebezetteln
an die Situation zu Beginn. Die „Dokumente“, die erstellt wurden, machen für die
Teilnehmer*innen nur im Kontext dieses Workshops als Teil einer Übung Sinn. Es handelt sich
bei den entstandenen Materialien noch nicht um wirkliche Dokumente, da Notizen, Fotos,
Tonaufzeichnungen erst zu Dokumenten werden, wenn wir entscheiden, dass sie wichtige
Informationen tragen und sie in einen recherchierbaren Zustand bringen, wie zum Beispiel
archivieren. Mir helfen die Fotos und Klebezettel, um zu sehen, wie meine Anweisungen
interpretiert wurden, und sie dienen mir als Referenz, auf die ich im späteren Verlauf der Stunde
zurückgreifen werde. Für mich sind es also Dokumente, um meinen Unterricht zu evaluieren.
Zurück ins Tanzstudio: Nach diesem kurzen praktischen Einstieg, der bestimmt bei einigen die
Frage nach Sinn und Zweck aufgeworfen hat und zur Irritation (die ich als kreativen Moment
begreife) führt, gehen wir zu theoretischen Fragen der Dokumentation im Kontext von
somatischer Arbeit und künstlerischer Praxis oder Forschung über: Wie kann Dokumentation
helfen, Sinn für mich und andere zu generieren? Kann sich meine Arbeitsweise von Beginn an in
der Erstellung der Dokumente widerspiegeln? Kann ich die Methoden meiner Forschung nutzen,
um die Dokumentation vorzubereiten und mir somit ein einheitliches (in sich geschlossenes)
Feedbacksystem für meine Arbeit schaffen?
Bevor diese Fragen beantwortet werden können sollte zuerst geklärt werden, wofür die
Dokumentation genutzt werden soll. Hier einige Eckpunkte:
● nutze ich sie für meinen ureigenen Arbeitsprozess und muss nicht gewährleisten, dass die
Dokumente von anderen verstanden werden (z.B. mein Notizbuch)?
● nutze ich sie in einem Forschungsrahmen, in dem ich meine Arbeit für mich und für andere
nachvollziehbar machen will?
● möchte ich sie für eine Publikation nutzen?
● sind sie Spuren aus meiner künstlerischen Arbeit, die ich als Kunstwerke zeigen möchte, die
also für sich alleine stehen können?
Was mich im Kontext Tanz besonders interessiert ist, wie am Anfang schon erwähnt, die Frage,
ob ich mit der Vorbereitung des Körpers durch somatische Methoden, einen Einfluss auf die
Produktion der Dokumente ausübe. Und daraus folgend: Kann ich durch Dokumentation
somatischem Erleben eine Ausdrucksform geben, die mir hilft, mein Handeln und mein
(Forschungs)Interesse zu
● memorieren,
● klären und formulieren,
● entwickeln,
● vermitteln.
Es gibt nicht „die eine richtige Art und Weise“ zu dokumentieren, sondern die Mittel der
Dokumentation müssen sich an der Forschungsfrage ausbilden. Ebenso kann sich im
Umkehrschluss die Forschungsfrage mithilfe von Dokumenten klären lassen. Zum Beispiel in der
ersten Übung sind Zettel und Foto die Hilfsmittel, um nachzuvollziehen, an welchen Ort mich
meine Vorliebe gebracht hat und warum.
Es ist also gut und wichtig Dokumentation zur Unterstützung eines Arbeitsprozesses von Beginn
an mitzudenken. Sie kann, als Feedbacksystem genutzt, helfen, die eigene Arbeit besser zu
verstehen und die Fragestellung zu schärfen. Ein einfaches Beispiel: Ich stelle im Studio eine
Kamera auf, um meine Bewegungspraxis aufzuzeichnen. Ich kann auf dem Video sehen, was ich
gemacht habe. Ich kann aber auch die Differenz feststellen, zwischen dem was ich erinnere,
gemacht zu haben und dem, was mir die Aufzeichnung zeigt. Diese Lücke kann ich versuchen zu
verkleinern, indem ich die Kamera im nächsten Durchlauf anders positioniere oder/und mir
ergänzende Notizen dazu mache, was mir in den Bildern fehlt. Es ist im Tanz nicht leicht schon
zu Beginn der Praxis oder Forschung zu wissen, was neben dem (eigenen) Körper das passende
Instrument zur Dokumentation sein kann. Deswegen schlage ich vor, unterschiedliche Praktiken
anzuwenden und im Verlauf zu entscheiden welches Mittel der Fragestellung am ehesten
entspricht.
Methodenbeschreibung, Forschungsansatz und Versuchsverlauf sind in der Naturwissenschaft
essenziell, um Vergleiche mit anderen Arbeiten anzustellen. Wie wird die Forschung im Tanz
beschrieben? Die Tänzer*innen im Studio, ihrem Labor, gehen gegebenenfalls von einer
(Forschungs-)Frage oder Hypothese aus, für die sie ein bestimmtes Setting wählen. Schon die
Notizen über die Rahmenbedingungen (Raumgröße, Tageszeit, Temperatur, Probendauer und
vieles mehr) können im weiteren Verlauf für die Reflexion über die angelegte Methode relevant
sein und Teil eines ersten Dokuments werden. Alle Notizen, die dazu führen, einen nächsten
Schritt zu entwickeln, können in ein Protokoll über den Verlauf einer größeren Recherche
überführt und als Dokument aufbewahrt werden.


Mittel und Medien
Welche Mittel braucht eine verwertbare Dokumentation? Meist ist die künstlerische Forschung
nicht oder schlecht finanziert, weswegen es für die meisten Künstler*innen angebracht ist, die
Kosten für Dokumentation niedrig zu halten. Bekannte Ausnahmen sind Projekte wie die von und
zu:
● William Forsythe/Motionbank Synchronous Objects ,
● Steve Paxton/Contredanse Material for the Spine ,
● Anna Halprin/Contredanse – Baptiste Andrien & Florence Corin Dancing Life/ danser la vie ,
● Emio Greco/Peter Scholten Double Skin/ Double Mind oder
● Anne Teresa De Keersmaeker & Bojana Cvejić A Choreographer’s Score.
Anhand der Arbeit dieser Choreograf*innen wurden komplexe multimediale Dokumentationen in
interdisziplinären Kollaborationen erprobt. Kameraleute, Tänzer*innen, Grafiker*innen,
Programmierer*innen, Tanzwissenschaftler*innen, Neurowissenschaftler*innen und viele andere
Professionen arbeiteten zusammen an diesen Projekten. Die Resultate zeigen diverse
Möglichkeiten auf, wie Dokumente erstellt, verschränkt und für Forschung und Lehre nutzbar
gemacht werden können.
In der Realität der alltäglichen Arbeit hat die*der Künstler*in meist folgende Mittel zur
Verfügung:
● Fotokamera,
● Videokamera,
● Tonaufnahmegerät,
● Notizbuch für schriftliche Notizen oder Zeichnungen,
● und den Körper.
Das meiste davon haben wir dabei, wenn wir den Computer oder das Smartphone mit ins Studio
nehmen. Welches Arbeitsgerät ist das richtige für mich, um meiner Arbeit entsprechende
Dokumente zu erstellen? Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sensorische Praktiken
einen großen Anteil an der Entwicklung des Tanzes haben, komme ich zu der Frage zurück, ob
und wie es möglich ist, sensorisches Erleben zu dokumentieren. Kann ein sensorisches oder
somatisches Warm-up helfen, meine Wahrnehmung zu schärfen und damit die Wahl der Mittel
und dadurch die Art meiner Dokumentation beeinflussen?


Übung
Zur Annäherung an diese Frage biete ich eine zweite Übung an:
Ich lese die Handlungsanweisung des Small Dance von Steve Paxton vor (Paxton 2018: 35-39).
Entsprechend der Anweisung stehen die Teilnehmer*innen mit geschlossenen Augen im Raum
und konzentrieren sich auf ihre Wahrnehmung von Schwerkraft und die Aufrichtung ihres
Körpers im Verhältnis dazu. Der Small Dance konzentriert sich auf Mikrobewegungen in der
dynamischen Aktivität des Stehens und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ausgleichsbewegungen,
die der Körper im Stand macht. Wir machen diese Übung nur für die Dauer, die ich benötige, um
den Text laut zu lesen. Sie kann aber auch beliebig verlängert werden. Am Ende werden die
Augen wieder geöffnet und alle gehen durch den Raum. Ich schließe direkt mit einer Übung in
Anlehnung an die Arbeit von Lisa Nelson (tuning score) an und rufe Handlungsanweisungen
(calls) in den Raum: „Pause, die Bewegung rückwärts machen, fortfahren...“
Reflexion
Diese Praxis hat die Tänzerin Lisa Nelson an einem analogen Videoschnittplatz entwickelt, an
dem sie Frame für Frame Aufnahmen von Tanz studierte. Mit 24 (pal) Einzelbildern pro Sekunde
(oder 29 bei NTSC) konnte sie sich Bewegungsabläufe im Detail endlos oft vorwärts und
rückwärts ansehen. Dieses Prinzip der Bewegungsanalyse hat sie in Form eines Scores wieder in
die körperliche Praxis gebracht. Ich habe diese Übung an meine Arbeit adaptiert, weil mit ihr auf
ganz einfache Weise die Komplexität von Bewegung und unserer sensorischen Wahrnehmung
beleuchtet werden kann. Werden die Praktizierenden von einem „Pause”-Ruf überrascht, werden
sie sich zum Beispiel schnell der Lage ihres Körperschwerpunktes und der Organisation ihrer
Anatomie bewusst. Die kurze Unterbrechung kann dazu führen, dass die Bewegung nicht im
gewohnten Bewegungsfluss weitergeführt wird, sondern dass sich neue Wege eröffnen. Das
Zurückspulen, also eine Bewegung rückwärts zu machen, benötigt eine sehr hohe
Aufmerksamkeit, besonders wenn nicht nur das äußere Bild der Bewegung, sondern der
kinästhetisch wahrnehmbare Prozess zurückgegangen wird. Hierbei wird die Aufmerksamkeit auf
das Zusammenspiel verschiedenster Sinne gelenkt. Wie informiere ich mich über meine
Bewegung? Was sind meine Referenzen im Raum? Was hilft mir, mich zu erinnern, was ich
getan habe? Die Augen? Die Haut? Die Propriozeptoren? Der Muskeltonus? Die Akustik? Die
Temperatur? Die Konstellation der Anderen im Raum ...?
Wenn wir Schritt für Schritt einen Bewegungsablauf zurückverfolgen, können wir auf
Erinnerungen zurückgreifen, die helfen uns zu orientieren. Festzustellen welcher Art diese
Erinnerungen sind, ist Teil des Experiments und verweist auf die Kapazität des Körpers als
Bewegungsarchiv. Der Körper als Dokument und als Werkzeug mit dem dokumentiert wird. Die
Vorlieben oder Muster, mit deren Hilfe Einzelne sich orientieren sind unterschiedlich und oft
nicht versprachlicht. Mit meiner Adaption des tuning score ziele ich darauf ab, die Bewusstheit
für die eigenen Bewegungsabläufe zu verstärken und sich gleichzeitig der Mechanismen bewusst
zu werden, die unsere Wahrnehmung strukturieren. Die Teilnehmenden verstehen die
Herausforderung in der Regel sehr schnell. Schon nach dem ersten noch überraschenden call
ändert sich die Bewegungsqualität im Raum. Die Bewegungen werden kontrollierter, die
Tänzer*innen beobachten sich kurzzeitig aufmerksamer in ihrer Bewegung, gehen dann aber
auch wieder in freie Improvisation über. Der Körper lernt mit dem Shift der Aufmerksamkeit
durch Wiederholungen umzugehen und erlangt nach einiger Zeit eine höhere Stufe der
Sensibilisierung, die schon im Small Dance angelegt wurde.


Dokumentation
Nach dieser Übung frage ich, ob sich alle noch an die Stelle im Raum vom Beginn der Stunde
erinnern und ob sie das gleiche Foto machen würden? Manche bejahen das, andere würden eine
andere Wahl treffen. Ich bitte alle ihre Stelle aufzusuchen und vor Ort nochmals zu überlegen, ob
sie das gleiche Foto machen würden. Einige ändern die Entscheidung, die sie aus der Distanz
getroffen haben. Unsere Fähigkeit der Abstraktion ist zwar groß, aber ein Positionswechsel bringt
immer detailliertere Ein-(oder Aus-)blicke, die wir nur aus der neuen Position erfassen können.
Relevant für mich ist in diesem kurzen Einschub die Konfrontation mit der Möglichkeit, aus
einer anderen physischen Verfasstheit kommend, eine andere Präferenz zu haben. Die Sinne
wurden aufgewärmt, der Raum hat sich in der vergangenen Stunde durch Bewegungen und
Begegnungen verändert, es gibt eine gemeinsame Geschichte, wahrscheinlich hat sich auch die
Temperatur geändert. Dem ersten Foto kann ein zweites zur Seite gestellt werden und bietet
damit vielleicht schon den ersten Ausgangspunkt zu einer Analyse dessen, was sich geändert hat
bzw. wie sich eine etwaige Veränderung meiner physischen Verfasstheit durch sensorische
Übungen auf die Wahl des Bildausschnittes auswirkt. Die Fotos können ein Ausgangspunkt dafür
sein zu verstehen, ob sich das Warm-up im Dokument widerspiegelt.


Übung
Die letzte Übung, die ich anbiete, ist eine Partnerübung und auch hier ist der Körper als
Wissensträger in Kombination mit Forschergeist und sensorischer Neugier der Ausgangspunkt.
Ich habe diese Übung ( Landscape and Explorer ) vor vielen Jahren von Dieter Heitkamp (Prof. Dieter Heitkamp ist Ausbildungsdirektor Zeitgenössischer und Klassischer Tanz (ZuKT) an der Hochschule
für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt/Main) gelernt
und adaptiere sie seitdem an meine Arbeit. Ich benutze sie speziell als Vorbereitung, um durch
spielerische Neugier und Improvisation, die Aufmerksamkeit auf das eigene Interesse zu richten
und das Verständnis dafür zu wecken, dass Wahrnehmung ein aktiver Prozess (Noë 2004) ist.
Durch eine ungewöhnliche Exploration der Körperlandschaft eines Gegenübers werden
Gewohnheiten und Automatismen infrage gestellt sowie Abenteuerlust und sensorische
Wahrnehmung angesprochen.
Für die Übung begibt sich eine Person in eine bequeme Position auf dem Boden und bietet eine
(Körper-)Landschaft an, die andere Person ist die oder der Forschende. Die Landschaft kann
jederzeit ihre Position ändern, leichte Verschiebungen bis hin zu Erdrutschen und Umstülpungen
sind erlaubt. Die forschende Person folgt sehr ernsthaft ihrem Interesse, geleitet von ihren
Sinnen. Sie kann z.B. bequeme Positionen in den Formen der Landschaft suchen, Texturen,
Sounds und Mechaniken erkunden. Alles kann von Interesse sein, allerdings behält die
Landschaft ihre Autonomie, sich zu äußern, wenn sie etwas nicht will. Zur Exploration kann der
gesamte eigene Körper benutzt werden. In der Regel gebe ich für die Übung 15 Minuten Zeit und
lasse danach die Rollen wechseln. Im Anschluss an die Übung sollen die Forschenden wie auch
die Landschaften ein Dokument ihres Erlebens erstellen und sich dazu austauschen. Meist wird
geschrieben oder gezeichnet.
Diese Aufgabe stellt für manche Teilnehmer*innen eine Herausforderung dar, da das Explorieren
eines anderen Körpers, der nicht vertraut ist, als Grenzüberschreitung empfunden werden kann.
Respektvolle Begegnung und klare verbale Kommunikation sind Voraussetzung. Wird allerdings
die Scheu überwunden und das Interesse übernimmt die Regie, macht sich eine spielerische
Atmosphäre breit. Zuzulassen, wirklich meinem Interesse zu folgen und die Sicherheit, dass mich
immer etwas interessieren wird, wenn ich genau hinschaue, -fühle, -höre oder -rieche bieten eine
unendliche Quelle der Inspiration. Es können auf überraschende Weise neue Erkenntnisse
gesammelt werden, die sich auch in der Erstellung eines Dokumentes widerspiegeln können.
Erkenntnisse zu Details, Perspektivwechsel und zur Relevanz des Standpunktes sind in dieser
Übung genauso wichtig, wie die Bedeutung und das Zusammenwirken aller Sinne.


Zum Abschluss
Die beschriebenen Übungen basieren auf meiner These, dass künstlerische Forschung,
insbesondere im Feld der körper- und bewegungsbasierten Praxen, ungewohnte, neue Formen der
Dokumentation entwickeln muss, um im akademischen Kontext in ihrer Spezifität sichtbar zu
werden. Dokumentation als Teil künstlerischer Forschung sollte sich der gleichen oder adäquaten
Methoden bedienen, derer sich die eigene Forschung bedient. Doch wie finde ich heraus, was die
adäquate Methode ist, stellt sich doch in der tanzpraktischen, künstlerischen Forschung der Sinn
dessen was wir tun oft rekonstruktiv aus einer sensorikgeleiteten oder erfahrungsbasierten Praxis
her? Wie kann ich vorbereitet und aufmerksam sein für die Erkenntnis, die sich im Handeln
entwickelt? Die Bewusstwerdung unserer sensorischen Kapazitäten und das Verständnis dafür,
was wir gewohnt sind zu tun und Wahlmöglichkeiten zu erkennen, scheinen mir erste Schritte auf
dem Weg dorthin zu sein. Improvisation und spielerischer Umgang mit allen zur Verfügung
stehenden Medien können im forschenden Finden neue wichtige Erkenntnisse hervorbringen, die
nicht kognitiv geplant waren, sondern die durch Praktizieren von Tanz und Dokumentation im
ständigen Feedback bewusst gemacht werden können.


Literatur
Bermudez, Maite/Greco, Emio/Scholten, Pieter C. (2007): Capturing Intention , Amsterdam:
eg/pc and AHK.
Contredanse/Andrien, Baptiste/Corin, Florence (2014): Anna Halprin, Dancing Life/Dancer la
vie (DVD), Brüssel: Edition Contredance.
De Keersmaeker, Anne Teresa/Cvejić, Bojana (2012): A Choreographer’s Score , Brüssel: Rosas,
Mercatorfonds.
Forsythe, William; Palazi, Maria, Zunica Shaw, Nora (2010): Synchronous Objects reproduced
[online] https://synchronousobjects.osu.edu/content.html [6.1.2020]
Keiz, Andrea (2017): Documentation as (Part of) Artistic Practice, in: MIND THE DANCE
[online] http://mindthedance.com/#article/35/documentation-as-part-of-artistic-practice
[6.1.2020]
Nelson, Lisa (o.J.): Lisa Nelson on the Tuning Scores, [online]
http://olga0.oralsite.be/oralsite/pages/Testpage_Lisa_Nelson_(general)/ [6.1.2020]
Noë, Alva (2004): Action in Perception , Cambridge: The MIT Press.
Paxton, Steve (2008): Material for the Spine (DVD), Brüssel: Edition Contredance.
Paxton, Steve (2018): Gravity , Brüssel: Contredanse Editions.


Attachments:
Abb-3 Blick hand
Abb.1 Boden
Abb.2 Blick
Abb.4.Klebezettel
 
 
 
Downloads:
Right click on the link(s) and choose "download linked file as", to specify the target download folder on your computer
[type: pdfmaking sense through sensation


Comments:
You must be logged in to be able to leave a comment.